20.08.2014 Alkoholismus

Die Sucht zähmen

Ein neues Medikament soll Abhängigen helfen, ihre Trinkmenge zu verringern. Experten schätzen den Nutzen unterschiedlich ein
Ein neues Medikament soll Abhängigen helfen, ihre Trinkmenge zu verringern. Experten schätzen den Nutzen unterschiedlich ein Bildnachweis: Thinkstock/istock/iacona

Der Gemeinsame Bundesausschuss hat im Februar 2014 eine wegweisende Entscheidung getroffen: Medikamente, die dabei helfen, dass Süchtige weniger Alkohol trinken, sind jetzt erstattungsfähig. Bislang galt das nur für Arzneimittel, welche die Abstinenz unterstützen. Damit ist in Deutschland der Weg frei für den Wirkstoff Nalmefen, der bereits seit März 2013 die europäische Zulassung hat. Der Hersteller wollte noch das Urteil des obersten deutschen Entscheidungsgremiums abwarten und plant jetzt, sein Arzneimittel im Herbst hier einzuführen. Verordnen Hausärzte dann Nalmefen, übernehmen die gesetzlichen Krankenkassen die Kosten – zunächst für maximal drei Monate, in begründeten Einzelfällen weitere drei Monate lang. Die Patienten sollen allerdings nur bei Bedarf eine Tablette schlucken: am besten ein bis zwei Stunden vor einem trinkträchtigen Ereignis. Wenn nötig, kann das Medikament auch zusammen mit dem ersten alkoholischen Getränk eingenommen werden. Nalmefen wirkt an sogenannten Opioid-Rezeptoren auf bestimmten Gehirnzellen und macht so das Trinken von Alkohol weniger attraktiv. Folgeerkrankungen vermeiden Hausärzte haben nun ein Arzneimittel zur Verfügung, mit dessen Hilfe sie den riskanten Alkoholkonsum ihrer Patienten reduzieren können. Wenn das Medikament dazu beiträgt, die Trinktage zu reduzieren, ist das aus medizinischer Sicht ein Fortschritt. Denn das Risiko für Folgeerkrankungen wie Leberschäden sowie Herz- und Hirninfarkte steigt mit der Alkoholmenge, die jemand zu sich nimmt. Wer nicht schwer abhängig ist, kann versuchen, mithilfe von Nalmefen seinen Konsum zu reduzieren. Mediziner warnen allerdings davor, die Wirkung des Medikaments zu überschätzen: Tabletten allein nützen nichts. Man muss auch motiviert sein, das eigene Trinkverhalten zu verändern. Andere Suchtexperten sehen den neuen Wirkstoff kritischer. Einige halten das Medikament im therapeutischen Einsatz für überflüssig und in der Vorbeugung für zu teuer. Sie sagen, Nalmefen habe nur einen kleinen Effekt. Durch die Einnahme würden Menschen gerade mal ein Glas Bier weniger am Tag trinken. Gemeint ist eine Trinkeinheit von einem Viertelliter (12 Gramm Alkohol). Ist das wahr, ist für Menschen, die zum Beispiel regelmäßig zwei Liter Bier trinken, die Reduktion durch Nalmefen klinisch völlig unbedeutend. Nalmefen-Gegner sagen, Menschen mit Alkoholproblemen sollten vielmehr anstreben, zu einem risikoarmen Trinkverhalten zu kommen. Nach aktuellem Forschungsstand liegt die Grenze dafür bei gesunden Männern bei täglich höchstens zwei Trinkeinheiten (24 Gramm Alkohol). Für gesunde Frauen gilt die Hälfte: also zum Beispiel ein Viertelliter Bier, ein Achtelliter Wein oder zwei Zentiliter Schnaps. Männer und Frauen sollten zudem an zwei Tagen pro Woche ihrem Körper eine Trinkpause gönnen. Ferner sollten Autofahrer und Schwangere auf Alkohol verzichten. Das Gleiche gilt für Menschen, die Medikamente einnehmen. Begleitung durch Hausärzte Wer also gewohnt ist, viel zu trinken, hat einen weiten Weg vor sich. Befürworter des Medikamentes meinen, dass Nalmefen den Hausärzten eine Tür öffnet, um das Trinkverhalten anzusprechen. Denn Ärzte sollen ihre Patienten dabei unterstützen, weniger zu trinken, wenn sie das Medikament verordnen. So hat es der Gemeinsame Bundesausschuss festgelegt. Das Ergebnis der drei Zulassungsstudien zeigt: Die größte Veränderung vollzieht sich nicht durch die pharmakologischen Eigenschaften des Medikaments, sondern durch die begleitenden Gespräche. Interessant: Knapp 20 Prozent der Studienteilnehmer veränderten bereits aufgrund des Erstgesprächs und ohne Medikament innerhalb von zwei Wochen ihren Alkoholkonsum in den unproblematischen Bereich. In einer der drei Studien trank die Kontrollgruppe, die zusätzlich zur Beratung nur ein Scheinmedikament erhielt, nach sechs Monaten rund 40 Prozent weniger als zuvor. Für Kritiker von Nalmefen ist das ein Beleg, dass es für Betroffene durchaus möglich ist, ihr Trinkproblem in den Griff zu bekommen – und dass sie dafür kein Medikament benötigen. Sie vertreten die Meinung: Wenn jemand seine Trinkmenge reduzieren will, kann er sich an eine Fachkraft wenden. Mehrere Hundert Therapeuten in Deutschland bieten Kurse an, die zum kontrollierten Trinken hinführen. Allerdings ist unter Experten noch heftig umstritten, ob das für Alkoholabhängige ein erreichbares und sinnvolles Therapieziel ist. Sucht ist definiert durch Kontrollverlust, Alkoholtoleranz, Entzugserscheinungen und Trinkzwang. Nalmefen-Gegner sagen: Nur Abstinenz macht einen Alkoholiker wieder frei in seinen Handlungen. Andere Experten sehen die Sache weniger strikt. Sie meinen, man sollte einem Patienten zur Abstinenz raten. Denn wer dieses Ziel erreicht, ist am besten vor Rückfällen geschützt. Doch die Trinkmenge zu reduzieren ist besser, als gar nichts zu verändern. Mehr Menschen erreichen Ein weiteres Argument spricht dafür, auch Therapien anzubieten, die kontrolliertes Trinken zum Ziel haben. Denn nur rund fünf Prozent aller Alkoholabhängigen in Deutschland unterziehen sich einer Entwöhnungstherapie. Von ihnen bleibt etwa ein Drittel ein Jahr lang abstinent, zeigen die Daten des Fachverbands Sucht. Um mehr Menschen als bislang zu erreichen, fordern viele Experten: Alkoholabhängige sollten frei entscheiden dürfen, ob sie künftig abstinent leben oder weniger trinken wollen, und dann entsprechende Therapieangebote erhalten. Eingeschränkt wird die Wahlfreiheit unter anderem dadurch, dass bisher nur die Kosten für Therapien erstattet werden, die auf Abstinenz abzielen. Natürlich gibt es auch Menschen, die aus eigener Kraft, mithilfe von Freunden, Angehörigen und Selbsthilfegruppen von ihrer Trunksucht loskommen. Doch niemand weiß genau, wie viele es so schaffen. Abstinenz immer im Blick In der Praxis liegen die Suchtexperten gar nicht so weit auseinander, wie man meinen mag: Viele der Patienten, die mit dem kontrollierten Trinken beginnen, entscheiden sich schließlich dafür, keinen Alkohol mehr zu trinken. Nalmefen soll Alkoholabhängigen helfen, weniger zu trinken, damit sie es anschließend besser schaffen, abstinent zu werden. Erst die Praxis wird zeigen, wie viel die neue Entwöhnungshilfe bringt.